ein Anfall auf offener Straße

 

wie verhält sich die Bevölkerung? Was kann ich

 

als Mitbetroffener dabei tun?

 

 

Folgende Situation: Es ist Kirmes auf dem Dorf, viele Leute stehen auf der Straße und hören sich die Lästerrede über’s vergangene Jahr an, die die jungen Burschen vom Dorf veranstalten. Es ist immer eine fröhliche bunte Zusammenkunft von Jung und Alt, aber heute war es anders.                       

Eine Menschentraube bildet sich plötzlich in der Nähe, aufgeregt rennen Leute hin und her. Ich kämpfe mich durch die Menge und sehe einen Menschen am Boden liegen. Krampfend und zuckend mit allen Gliedern, aber ich sehe auch, dass ein Mann bei ihm ist der sich kümmert. Ganz eindeutig, dieser Mann hatte gerade einen epileptischen Anfall. Aus der Menge kamen Äußerungen: der ist ja nur besoffen, Drogensüchtiger oder der spielt uns ja nur was vor, der will die Öffentlichkeit auf sich aufmerksam machen.                                                                    

Klar, bei einer Kirmes wird nicht nur Mineralwasser getrunken. Der Verdacht der Trunkenheit lag nahe, auch Drogensucht und Markiererei wären möglich, aber nur für unaufgeklärte Menschen. Denn dieser Fall war eindeutig, rhythmische Bewegungen mit allen Gliedern: DAS IST EPILEPSIE. Weil ich selbst Epilepsie habe, kenne ich mich in der Sache also gut aus. Ich fragte den neben dem Epileptiker knieenden Mann, ob man was helfen könnte. Er sagte nur dass es bald wieder vorüber sei, er wäre der Bruder.                                                                              

Ich sah nun auf die verstört blickenden Menschen, drängte sie zurück und beteuerte, dass der Mann gut versorgt sei und dass es hier nichts mehr zu sehen gibt. Allerdings sagte ich auch, wenn sich jemand für Epilepsie interessiere, würde ich gerne Rede und Antwort stehen. Ich bin spezialisiert auf Epilepsie, ich habe seit 51 Jahren selbst Epilepsie. Nun erzählte ich den ganzen Leuten erst einmal, dass Epilepsie eine Organkrankheit ist, wie jede andere auch. Es ist vergleichbar mit einem Gewitter oder Kurzschluss im Gehirn und es kann jeden von uns treffen. Dass die Krankheit ein Tabuthema ist, über das man am besten gar nicht spricht, scheint allen klar und das ist das Tragische. Ich merkte, dass sich die Leute nach und nach entfernten.

 

Hatte ich etwas falsch gemacht? Habe ich sie vor den Kopf gestoßen? Kann Öffentlichkeitsarbeit so danebengehen? Und ich hatte angenommen, dass dies die Chance wäre den Leuten Epilepsie zu erklären.                                                        

 

Es war bei weitem nicht so, ich hatte etwas ganz wesentliches nicht beachtet: Hier im Dorf kennt jeder jeden. „wenn mein Nachbar mitbekommt, dass ich Epilepsie habe…….“                                                               

Diese Ängste und Vorurteile hatte ich nicht beachtet und es kam gnadenlos zum Vorschein, dass die Öffentlichkeit fast gar nichts weiß. Leider.

Dann kam aber doch noch eine kleine Wendung. Bei meinem Heimweg hörte ich plötzlich jemanden rufen: Dieter, kann ich mit Dir mal ganz vertraulich über was reden? Es war Paul ein früherer Bekannter in meiner Jugendzeit. Kein Problem, sagte ich, ich kann schweigen.                                                    

 

Ich setzte mich mit ihm auf eine Bank und er begann zu erzählen: Seine Frau hätte Epilepsie, aber wir verschweigen das wegen der Leute und wegen dem ganzen Gerede. Nun war ich sprachlos, wollte dann aber genaueres über die Epilepsie seiner Frau wissen. Es stellte sich heraus, dass sie schon seit 25 Jahren die Epilepsie seiner Frau verschweigen. Dieses Schweigen hieß: Ich bin gesund, mir fehlt nichts.

Wir sprachen 2 Stunden über Ängste, Unsicherheiten und Schamgefühlen. Die Angst von jemanden abgelehnt zu werden wegen der fehlenden Kenntnis über Epilepsie, aber auch über seine fehlenden Selbstsicherheit. Wir wollen ja nicht auffallen: Ja kein Aufsehen, ja kein Ärger, es könnte ja sein, dass die Leute meine Frau für verrückt oder dumm halten.                                               

Ich sagte zu Paul, dass sie sich nicht in ihr Schneckenhaus zurückziehen dürfen. Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass die Nachbarn und Freunde dieses Verhalten nicht mitbekommen.

Nun erzählte ich von meinen Erlebnissen, von meinen Freunden und auch von den Verheimlichungen, die ich vor vielen Jahren auch hatte. Dass meine Kegelbrüder glaubten, ich sei Alkoholiker nur weil ich keinen Alkohol trank. Ich sagte auch, dass ich ihnen reinen Wein einschenkte, mich outete. Und seitdem wurden unsere Kegelabende zunehmend fröhlicher. Sie wussten nun dass ich Epilepsie hatte, aber sie hatten keine Angst, keine Hemmungen mehr etwas Falsches zu sagen, denn sie wussten was zu tun ist, wenn ich mal tatsächlich einmal einen Anfall bekommen sollte.                                                

Paul sah mich nachdenklich an, ich konnte richtig sehen wie es in seinem Gehirn arbeitete. Du meinst die Leute im Dorf verstehen das, dass ich 25 Jahre nichts sagte? Wie soll ich das nur tun, ich schäme mich ja selbst so.

Das war für mich ein fürchterliches Erlebnis, aber auch eine große Lehre. Ich habe Paul geraten, mit seiner Frau zu einem Epileptologen zu gehen, der etwas von Epilepsie versteht, sich gut beraten und therapieren zu lassen und selbstbewusst die ganze Sache anzugehen..........

 

......das Ganze ist nun 5 Jahre her, Pauls Frau wurde medikamentös gut eingestellt und ist seit 2 Jahren anfallsfrei. Für Paul und für seine Frau fing ein neues Leben an. Sie wurden offener zu den Leuten, man hatte das Gefühl, dass sich das ganze Dorf über diesen wunderbaren Wandel freute. Auch die Lebensqualität der beiden erhöhte sich zusehends. Ich sage immer wieder zu Paul, denke nicht an das was sie   nicht kann sondern an das was sie kann. 

 

UND DAS IST SEHR VIEL.

 

Diese Geschichte ist wahr und mein Schulfreund Paul hat sich um 180° gewandelt. Es ist kein Wunder passiert, ich habe nur meine Kenntnisse weitergegeben.

 

Ich wünsche Euch allen aufgeschlossene und gute Freunde.

 

Dieter Schmidt

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Kommentare: 4
  • #1

    Marco (Sonntag, 29 Juli 2012 20:21)

    Das ist doch ein sehr schönes Erlebnis. :-)

  • #2

    Dieter (Donnerstag, 02 August 2012 11:05)

    das schöne Erlebnis ist schon wichtig, aber ich will alle ansprechen. Es ist doch sehr wichtig auch der Öffentlichkeit zu sagen, dass Epilepsie nur eine Organkrankheit ist. Denn wir werden immer noch allzuoft als geisteskrank oder dumm gehalten. Das ist fatal und da müssen wir immer ankämpfem !!

  • #3

    Anja (Donnerstag, 09 August 2012 13:21)

    Es ist sehr schön für den Betroffenen, wenn Du jemanden mit deinem forschen Vorgehen während des Anfalls erreicht hast. Meine Art wäre es jetzt allerdings nicht. Aus zwei einfachen Gründen:

    Man kann, auch als Epilepsiepatient, nie einen epileptischen Anfall diagnostizieren. Wir sind keine Ärzte und nicht spezialisiert, wir sind nur Laien mit gewisser Eigenerfahrung.
    Es ist brandgefährlich zu sagen, ich habe Epilepsie, ich kenne mich da aus. Der Patient könnte auch in einer lebensbedrohlichen Situation sein, die mit Epilepsie rein gar nichts zu tun hat und dringend medizinische Hilfe benötigen. Epilepsie schützt schließlich nicht vor anderen Erkrankungen.

    Ich bin schon öfter Zeuge eines Anfalls in der Öffentlichkeit geworden. Ich vermeide es aber mich einzumischen wenn schon andere um den Betroffenen bemüht sind und einen Krankenwagen gerufen haben. Es sei denn, ich sehe dass man dem Betroffenen nicht richtig hilft. Oft sind ja auch Freunde/Bekannte dabei, die genau wissen wie der Betroffene behandelt werden will. Ich finde diese Variante für mich angemessener.

    Ich habe es schon an mir erlebt, dass sich eine Mutter (eines Epilepsiekranken Kindes) über die Ratschläge einer Krankenschwester und den Willen meiner Schwester (die genau wusste was bei mir zu tun ist), hinweg setzte und mir dadurch mehr schadete als half. Sie dachte, als Epilepsie erfahrene Mutter würde sie sich auskennen. Bei ihrem Kind war das sicher auch so, aber nicht bei anderen Betroffenen und in dem Moment nicht bei mir.

    Das sollte man schon unterscheiden.

    Außerdem kommt es immer etwas komisch rüber, wenn man so forsch ran geht und es wirkt auf die meisten eher abschreckend als motivierend. Wenigstens auf die Nicht-Betroffenen. Ich persönlich mag es da subtiler.

    Aber das muss jeder für sich selbst wissen.

    Das vertrauliche Gespräch finde ich aber gut. Das kann man auch überall führen und wenn man geschickt ist, kann man richtig viel erreichen - auch für die Öffentlichkeit. Was nicht nur wichtig sondern auch heilsam sein kann :-)

  • #4

    Dieter (Donnerstag, 09 August 2012 16:47)

    Deine Meinung ist so ehrlich und eindrucksvoll. Deshalb ist es so wichtig Erfahrungen Anderer hier zu lesen. Es kann sein, dass ich bei meinem damaligen Erlebnis zu emotional oder forsch reagiert habe. Aber so war es nun mal....Ich danke für jeden guten Rat, man will ja immer wieder dazulernen. Ich gelobe Besserung ;-)